Montag, 22. Juni 2015

Was hat es gebracht?

Mit dem letzten Tropfen Diesel erreichen wir den Flughafen in Budapest. Das Ende der Fahrt ist erreicht. Nur noch der Rückflug und die Heimfahrt mit Auto oder Zug liegen vor uns in der Vorfreude auf Zuhause. Voller Eindrücke kehren wir zurück.

Was hat's gebracht?

Diese Frage vom Anfang der Fahrt, was wird es wohl bringen?, scheint mir jetzt völlig abwegig. Es war unglaublich beeindruckend und interessant. Ein Privileg, an dieser Reise teilnehmen zu dürfen. Diese wirklich schwierigen Lebensbedingungen der Menschen und die engagierten, diakonisch orientierten Christen, die sich diesen Schwierigkeiten entgegenstellen. Am elendsten sind sicher die Lebensbedingungen in der Ukraine, noch verschlimmert durch den Krieg im Osten des Landes. Aber auch in den EU Mitgliedern Slowakei und Rumänien gibt es immer noch viel Elend, das mit billigen Arbeitskräften, Zwangsarbeit, Menschenhandel aber auch der Abwerbung von gut ausgebildeten Spezialisten Auswirkungen bis nach Deutschland hat.

Wir haben viele Projekte kennengelernt, die es alle Wert sind unterstützt zu werden und wir haben bewundernswerte Menschen kennengelernt, die diese Projekte prägen, vor allem vielleicht in der Arbeit mit den Roma - sei es aus echter, interessierter Zuwendung heraus oder als  Überlebensstrategie, um neue Mitglieder für die Kirche zu gewinnen. Dies Arbeit durchbricht Grenzen und lässt ganz Neues entstehen. 

Man wird auch etwas demütig bei dem, was wir in Deutschland als Probleme empfinden. Hier geht es oft um das nackte Überleben. Vor allem für die alleinstehenden pflegebedürftigen Senioren, die oft niemanden haben als die neu gegründeten Pflegestationen oder Seniorenheime. Aber auch für die Waisenkinder und Kinder aus sozial schwierigen Familien, von denen ja nur ein Bruchteil der Betroffenen einen Platz im Kinderheim oder den Tagesstätten finden.

Natürlich lernt man hier auch, wie Geschichte und ihre Interpretation das Leben prägen können. Die Ungarn leiden bis heute unter der Reduzierung ihres Territoriums nach den Weltkriegen. Ungarn leben in all diesen Ländern und fühlen sich irgendwie zusammengehörig und müssen sich dennoch jeweils mit den Ländern arrangieren, in denen sie nunmal leben.

Zum Abschluss ein Wort zu unserer Reisegruppe. Es war ne tolle Gruppe! Thomas Fenders "Aufsitzen Jungs!" beim Start mit dem Auto wird mir in Erinnerung bleiben, ebenso wie die Standardfrage bei der Ankunft im Quartier  "Haben sie einen Wifi-Schlüssel?", oder die bange Sorge um ausreichende Versorgung hinter der Frage "Wann gibt es Mittagessen" und natürlich "Sie überschreiten die Geschwindigkeitsbegrenzung!" aus dem Navi oder mein Satz, mehrmals täglich ausgesprochen über meine 5 Mitreisenden: "Ihr Grafschafter seid auch irgendwie besonders."

Misca - Micsike ( ungarisch )

Das Projekt besteht seit 2002 und wurde mit viel Hilfe aus Holand aufgebaut. Romakinder aus der ganzen Region leben hier während der Woche und gehen hier zur Schule. Wieder gewinnen beide Seiten: Die Dorfschule hat genug Schüler und die Roma ein Zuhause. Auch hier ist es ein großes Anliegen, den Lebensstil der Romafamilien zu ändern: mehr Verantwortung für sich übernehmen, langfristig denken, Ordnung halten. Pädagogische Anreize: Wenn ihr Lebensmittel wollt, lernt euer Haus zu putzen. Deswegen betreibt dieses Projekt auch einen 250 ha großen Bauernhof mit Kühen und Schweinen, wo Roma arbeiten können. Der Hof versorgt das Heim. Und auch hier ist es ein ganzes Stück Arbeit, einen guten Kontakt zur Dorfbevölkerung aufzubauen und Vorurteile gegrnüber den Roma abzubauen. Gegründet und geleitet wird das Projekt von einem Ehepaar, sie ist Lehrerin, er ist studierter Landwirt. Passt gut.

Pastor Zsolt Farkas, verantwortlich im Bischofsamt für die diakonischen Projekte, führt uns an diesem Tag bei wunderbarem Wetter hierher. Er und Judit Vincze stehen für einen Neuanfang der Diakonie in diesem Distrikt in der Nach-Tökes Ära. Der Distrikt muss jetzt Nachholen, was Klausenburg an Vorsprung gewonnen hat und unter Bischof Tökes in Oradea nicht möglich war.

Das Kinderheim in Misca.

Sonntag, 21. Juni 2015

Achter Tag - Diakonie in Oradea


Seit 2014 fördert HEKS (das Hilfwerk der schweizer Kirchen) die Kooperation in den beiden Distrikten in der Diakoniestiftung Diakonia. Zunächst wurden gemeinsame Standards erarbeitet. HEKS fördert diese Zusammenarbeit, fordert aber auch, dass die von ihnen geförderten Projekte irgendwann auf eigenen Füßen stehen. 


Neben der Altenpflege hat die Diakonie zwei wichtige Projekte: eines gegen Menschenhandel und Ausbeutung im Ausland. Viele Menschen informieren sich hier und die Mitarbeiterinnen gehen auch in die Schulen um dort zu informieren.
Diese Arbeit ist eine Reaktion auf das Problem, dass viele Rumänen ohne jede Information z.B. nach Deutschland gehen und dort radikal ausgebeutet werden, weil sie sich einfach nicht auskennen.

Das andere wichtiges Projekt ist eines gegen häusliche Gewalt. Für beide Projekte gibt es gut gemachte Flyer in verschiedenen Sprachen.

In der Altenpflege im Rahmen der Diakonia-Stiftung bietet die häuslichen Pflege drei Elemente: Baisc care, community service und medical service.

Geplant sind die Arbeit mit Behinderten und eine Werkstatt für Behinderte, weitere diakonische Niederlassungen mit Informationspunkten über die Arbeit im Ausland und Seniorenbetreuung für aktive Senioren.

Die Diakonie arbeitet an mehreren Standorten nach dem Meravorbild mit Roma.

Die EU fordert von Rumänien einen anderen Umgang mit den Roma und fördert stark die Arbeit mit ihnen.

Zitat Pastor Farkas: "Es gibt in diesem Landkreis Bihor viele Roma und sie sind ungarisch."Also gibt es 11 Projekte der Romamission im Landkreis.

Judit Vincze

Judit Vincze ist seit 2007 Kirchenrätin für Mission und Diakonie im Kirchendistrikt Oradea. Sie vertritt uns gegenüber das Bischofsamt. Seit 2010 arbeiten beide Distrikte in der Diakonie zusammen. 

Generell ihre Meinung zur Lage der Kirche: Gerade in dieser Zeit müsse die Kirche viel Orientierung geben, denn die Bevölkerung ist verunsichert. Korruption ist das große Thema. Überall werden Bürgermeister und auch Ärzte angeklagt. Überall versackt das Geld in dunklen Kanälen anstatt zum Beispiel in Straßen und Infrastruktur zu fließen. (Orientierung scheint das bischöfliche Thema in Klausenburg und Oradea)

Es gibt seit 2010 im Kirchenkreis die Stiftung Lampas (Lampe) zur Förderung der Diakonie im Kirchendistrikt. Stiftung bedeutet, man kann Gelder aus Ungarn bekommen. Kirchengemeinden dürfen das nicht direkt. Zur Gründung einer Stiftung braucht man nur eine relativ geringe Summe Geldes und schon hat man sie gegründet. Das Geld zur Gründung von Lampas gab das Gustav Adolf Werk.

Auch für Judit Vincze ist die Arbeit mit den Roma eine große Chance der Kirche: "Als Beauftragte für Mission sage ich, wir haben einen Verkündigungsauftrag nicht nur für die Ungarn. In vielen Dörfern leben immer weniger Ungarn und daneben die Roma - aber hunderte von Roma. Die Arbeit mit ihnen ist eine Chance."

Ihr Traum: in jeder Gemeinde neben Pfarrer und Kantor auch einen Diakon anstellen für das Profil der Kirche.

Sie erklärt uns das diakonische Engagement ihrer Kirche. Z.B. gibt es in Satu Mare eine ganz neue Kirchengemeinde und bei Baia Mare eine Gemeinde mit diakonischem Profil, in Zalonta gibt es ein sehr schönes Altersheim, von Holland gefördert, in Satu Mare gibt es ambulante Pflege und Sozialküche. Auch im Temesvar gibt es eine Sozialküche und noch in diversen anderen Gemeinden. Es gibt ein Jugendheim. Und und und - es gibt auch noch andere Projekte. Sie stellt uns eine Präsentation zusammen.

Judit Vincze möchte gerne die Diakonie der Gemeinden zusammenbringen, denn bisher arbeitet jeder für sich. Vernetzung innerhalb der Kirche ist ihr Ziel.

Problem: bis heute erkennt der rumänische Stadt die Diakonie der reformierten Kirche nicht an.

Auf Nachfrage nach überkonfessioneller Vernetzung erläutert sie: Ökumenische Diakonie sieht sie als keinen gangbaren Weg. Die Baptisten wollen unter Reformierten missionieren, die deutschen Lutheraner bekommen genug Geld aus Deutschland und haben kein Interesse an Zusammenarbeit, die katholische Caritas will auch nicht mit den Reformierten zusammenarbeiten. Auf die orthodoxe Kirche kommt sie gar nicht erst zu sprechen. Die Ökumene ist wohl noch stark getrennt. 

Judit Vincze zeigt uns eine Präsentation über die diakonischen Aktivitäten im Distrikt Oradea

Zu schnell?

Da ist es passiert. Der Kleinbus wird von der rumänischen Polizei herausgewunken. Etwa, weil nur ein Licht funktioniert? Nein, er sei zu schnell gewesen. 62 statt 50.
Aber ich sitze im Auto von Judit Vincze. Viele Autos haben uns vor dieser Kontrolle gewarnt. Zu schnell waren wir sicher nicht. Vermutung von Judit Vincze: das ungarische Kennzeichen. Und tatsächlich: es wird noch ein anderes ungarisches Auto herausgewunken. So ist das wohl in dieser Gegend zwischen Ungarn und Rumänen. Es kann allerdings auch sein, dass heute allgemein ausländische Autos auf der Abschussliste stehen.
97 Lei wechseln den Besitzer.

Ich dokumentiere die Kontrolle im Spiegel.

Alesd

Etwas fällt auf: die Zeit vor 1989 und die Revolution sind gar kein Thema mehr bei den Gesprächen in Rumänien.  Was die Leute beschäftigt ist der letzte große Einschnitt: der Beitritt zur EU. Bei aller Bürokratie scheint er viel Positives im Land bewirkt zu haben. Die EU ist auch eine treibende Kraft im veränderten Umgang mit den Roma. 

Das Kinderheim in Alesd
Das Ehepaar Denes leitet das Haus, sie ist Sozialarbeiterin, er der Ortspastor. Gegründet wurde das Heim vom Ehepaar Sattler, beide sind verstorben.
Im Haus sind Waisen und Kinder aus sozial schwierigen Verhältnissen (Sozialwaisen) aus dem ganzen Kirchendistrikt untergebracht. Das Heim muss offizielle Normen erfüllen, es muss staatl. akkreditiert sein. Das Amt entscheidet auch darüber, welche Kinder kommen dürfen, übernimmt aber nur 20% der Kosten (von 1997 bis 2014 trug der Staat nur 8%). Dafür hat der Staat das Recht jederzeit das Haus zu kontrollieren. Die restlichen Kosten tragen ausländische Kirchen, wie auch unsere. Zunehmend beteiligt sich auch die eigene Kirche und die Gemeinden sammeln Kollekten für das Heim. 

Das Heim arbeitet 365 Tage im Jahr, es besteht aus einem Haus für die Kinder bis 14 und einem Haus für die älteren bis 25 Jahre. Meist verlassen sie das Haus früher, wenn sie einen Beruf finden und ein eigenes Leben beginnen. Die pädagogischen Mitarbeiterinnen im Haus verdienen 160 Euro im Monat und das ist noch mehr als man in der örtlichen Schuhfabrik verdienen kann. Ein Junge hat das Heim verlassen und arbeitet in Schweden - er verdient das 11fache seiner ehemaligen Betreuerinnen.

Das Ehepaar Denes erwartet, dass der Staat bauliche Veränderungen am Haus verlangen wird. Finanzielle Unsicherheiten und bürokratische Anforderungen belasten die Arbeit im Haus.

Der Betrieb des Hauses kostet ca. 6800 Euro im Monat.


Kirchenrätin Judit Vincze zwischen dem Ehepaar Denes.

Samstag, 20. Juni 2015

Siebter Tag - unterwegs in Siebenbürgen

Abends laufen ja oft die besten Gespräche. Mit dem Leiter der Diakonie, Dr. Artur Sarosi, und dem Diakoniepastor Istvan Kovacs verbrachten wir einen anregenden Abend in Klausenburg. Fazit ungefähr: Die Roma mehr zu integrieren ist eigentlich der einzige Weg, die sterbenden Gemeinden zu retten. Und wenn man sich ihnen zuwendet stellt man fest: sie sind gar nicht so anders als wir. Sie sind strebsam und ordentlich, wenn man ihnen die Gelegenheit gibt. Alle Seiten gewinnen.

Arbeit mit Roma in Mera
Agnes Pattantyus zeigt uns das Projekt. (Sie ist die Tochter von Prof. Gereb, der damals in den 90ern das theologische Institut leitete, als meine Frau und ich als Deutschlehrer da waren - das ist tatsächlich schon 20 Jahre her!)

Das Projekt in Mera wurde vom jetzigen Leiter der Diakonie in Klausenburg, Dr. Artur Sarosi, gegründet und ist heute ein Beispiel für viele Projekte im Land. Die Grundidee von Sarosi ist: die Roma wahrnehmen. Und aus dieser Grundhaltung entwickelt sich viel positives für beide Seiten. Die ungarisch-reformierten Gemeinden bekommen neues Leben und die Roma eine Zukunft. Heute gibt es in Mera ein Pflegeheim mit bald 30 Plätzen, ambulante Pflege und das Kinderprojekt.
Der Beginn war eine Arztpraxis. Viele Roma im Dorf hatten keine Pässe, man konnte sie nicht abrechnen (bis heute sind viele Roma nicht registriert. Offiziell gibt es 2 Mio. Man rechnet mit 8 Mio. In Rumänien bei etwa 17 Mio Einwohnern). So wurde das Potenzial der Roma entdeckt.
2001 begann die Arbeit mit den Kindern in der Schule. Ziel: bessere Bildung für Romakinder. Man brauchte aber auch Essen. Gekocht werden durfte in der Schule nicht. Also raus aus der Schule in ein Haus im Dorf. Seit 2004 wurde gebaut, es entstand ein Pflegeheim mit 2 Räumen für die Arbeit mit den Kindern. Bald entstand die Frage, was passiert nach der 4. Klasse? Und die Erkenntnis, man muss eigentlich schon im Kindergarten mit der Bildungsarbeit beginnen. 2009 wurde es zum EU Projekt, was viel Aufwand kostet und die Gelder kommen oft erst nach 2 Jahren, was überbrückt werden muss. Keiner aus der EU  kommt zu den Projekten, was viel Missbrauch hervorbringt. Viele Projekte existieren nur auf dem Papier. Also auch viel Misstrauen von Seiten der EU, was noch mehr Dokumentationspflichten hervorruft.

In der Zwischenzeit nehmen auch ungarische Kinder an dem Pogram teil. Jedes Jahr werden einfach die 50 ärmste Kinder ausgewählt. Es vermischt sich langsam. Erst wollten die Ungarn nicht zusammen mit den Roma gefördert werden. Die Roma lernen viel in Hygiene (Läuse), Lebenseinstellung (Disziplin, regelmäßiger Schulbesuch, Benehmen) und Bildung. Eltern sind hier oft keine Vorbilder, es kostet viele Hausbesuche, die vormittags erledigt werden.

Die ersten Kinder wechseln schon auf weiterführende Schulen auch in Klausenburg. Dort müssen sie hohe Hürden überwinden, weil ihnen mit Vorurteilen begegnet wird und sie besser sein müssen als andere. Damit erfüllt sich das eigentliche Ziel des Projektes: die Schule beenden und einen Beruf erlernen.

In der Zwischenzeit wurden in 15 Ortschaften Projekte nach dem Modell Mera gegründet. Der Erfolg hängt auch oft vom Bürgermeister und vom Ortspastor ab, deren Meinung in den Dörfern viel zählt.
Dies geschieht nicht nur in ungarischen Dörfern, auch in rumänischen und dann auch in der rumänischen Sprache.
Anders als in Mera werden in den anderen Orten die Räumlichkeiten von der Kommune oder anderen Partnern vor Ort gestellt.

(Es beschleicht mich der Gedanke, dass die hiesigen ungarischen und bestimmt auch die deutschen Dörfer und Kirchen erleben, was Europa insgesamt bevorsteht. Das Absterben der alten Kultur und die sprühende Jugend der Roma. Entweder man führt sie an unsere Kultur heran, oder mit ihnen entsteht etwas ganz Neues. Die Zukunft scheint ihnen ohnehin zu gehören. - Aber das ist nur ein Gedanke.)

Agnes Pattantyus führt uns durch die Romasiedlung in Mera.